Wie Trauer zur Erneuerung des Lebens beiträgt

In diesem Text möchte ich auf die Verbindung – oder eher oft die Nicht-Verbindung – eingehen, die wir zu Trauer, Verlust, und Traurigkeit haben.

​Wir leben in einer Welt, in der es geschätzt wird, optimistisch, positiv und glücklich zu sein.

​Aber wohin gehen wir, und was machen wir in einer solchen Welt, wenn wir uns niedergeschlagen fühlen oder vielleicht aktiv über einen Verlust trauern?

​Vielleicht die Trauer über den Tod eines lieben Menschen, der Verlust einer Freundschaft, das Ende eines bestimmten Lebensabschnitts oder das Loslassen eines alten Selbstbildes.

​All diese Dinge können und werden Traurigkeit und das Bedürfnis, über das, was nicht mehr ist, zu trauern, hervorrufen.
Diese Traurigkeit und der Instinkt, zu trauern, sind gesund und lebensbejahend.

​Wenn etwas nicht mehr da ist, das uns wichtig war, müssen wir es gehen lassen, damit das Leben weitergehen kann.
Dafür müssen wir trauern, vielleicht sogar heulen, unseren Schmerz herausschreien, damit wir danach neu ins Leben wiedergeboren werden können.
Bei manchen Dingen kann dieser Prozess innerhalb einer Minute geschehen.

​Du bist traurig, weil deine beste Freundin angerufen und gesagt hat, dass sie nicht mit dir auf das Konzert gehen kann, auf das du dich so gefreut hast.
Du bist vielleicht eine Weile traurig, aber dann ist es wieder vorbei.

​Wenn es sich um einen bedeutenden Verlust handelt, wird dieser Prozess tiefer gehen und sich eine ganze Weile wiederholen, bevor sich dieser natürliche Prozess des Loslassens vollständig anfühlt.

Aus diesem Grund gab es in vielen Traditionen und Kulturen sogar eine bestimmte Zeit, oft ein Jahr, in der man um ein Familienmitglied oder den Ehepartner trauert.
Unsere moderne Gesellschaft hat aber für solche längeren Phasen und natürliche Rhythmen oft nicht mehr viel Verständnis.

​Wohin gehst du, wenn du traurig bist oder dich ausweinen musst?

​Menschen sagen mir oft, dass sie ihre Traurigkeit und ihren Kummer als isolierende Erfahrung empfinden, als etwas, das sie, wenn überhaupt, allein tun.

​Ich glaube, das ist ein weiterer Grund, warum sich traurige Filme, melodramatische Lieder und dramatische Geschichten immer gut verkaufen. Sie helfen uns dabei die ungeweinten Tränen in uns ins Fliessen zu bringen.

​Vielleicht haben wir einfach den Blick für die heilende Kraft und die regenerative Qualität von Trauer und Traurigkeit verloren.

​Trauer über einen Verlust hilft uns tatsächlich zu reifen und das menschliche Herz zu entwickeln, denn Leiden und Verlust sind ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Erfahrung.

​Wie beim Tod bleibt niemand davon verschont, und wir können nur lernen, Mitgefühl und Empathie zu entwickeln, indem wir durch den Trauerprozess mit der richtigen Unterstützung durchgehen.

​Es liegt auch eine große Schönheit im Schmerz des Trauerns, wenn man die Tiefe der Traurigkeit zu einem Lied werden lässt, einem Ausdruck der Liebe und Wertschätzung für das, was nicht mehr ist.
Wir haben großartige Lieder, Kunst und Literatur von Menschen bekommen, die es geschafft haben ihre Trauer in Kreativität zu verwandeln.

​Es gibt eine tiefe Lebensweisheit im Umgang mit allen Gefühlen, die aber besonders aber für die Traurigkeit gilt.
Kein Gefühle kann ewig andauern, wenn man es fliessen und sich ausdrücken lässt.

Jeder von uns hat das schon erlebt:

Wenn man wirklich um etwas trauert, wenn man sich erlaubt sich dem Gefühl wirklich hinzugeben, wird es sich irgendwann verändern und eine neue Entspannung und ein neuer Raum entsteht.

Etwas Neues wird geboren, wenn man dem, was nicht mehr ist, erlaubt, vollständig zu sterben.
Wenn wir uns der Erfahrung ganz hingeben, wird sie sich verändern.

​Manchmal ist das aber schwierig und beängstigend, oder es fühlt sich unmöglich an, und wir sind nicht in der Lage zu trauern oder auch nur eine einzige Träne zu vergießen.

​Wir alle haben unsere eigene Geschichte mit der Trauer, oder wie wir gelernt haben, nicht darauf zu achten, uns abzuschalten und einfach weiterzumachen.
Das ist oft der Fall, wenn der Verlust traumatisch war, uns in jungen Jahren traf oder wenn Gefühle von Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit in der Familie nicht erwünscht waren.

​Aber es gibt auch Muster in unserer kollektiven Geschichte, die es uns schwierig machen, auf gesunde Weise zu trauern.

​Im letzten Jahr habe ich im Rahmen des Pocket Project (pocketproject.org) zwei Labs geleitet, die sich mit den Auswirkungen kollektiver Traumata in bestimmten Regionen befassten.
Ein Lab für Österreich und eines für den Balkan.

​Neben vielen tiefen Einsichten in beiden Labs hat mich vor allem die Erkenntnis beeindruckt, wie viel unverarbeitetes Leid noch in uns allen steckt, persönlich und kollektiv.

​In einer besonders bewegenden Situation wurde einem Teilnehmer des Balkan Labs plötzlich klar, dass er nie die Möglichkeit hatte, über den Verlust seiner Heimat Jugoslawien zu trauern, die nach dem brutalen Krieg in der Region plötzlich zu Serbien wurde.

Zum ersten Mal erlaubte er sich, tatsächlich über einen bedeutenden Verlust zu trauern, und es wurde im Lab für alle sehr deutlich, wie diese unverarbeitete Trauer im Laufe der Zeit zu einer Idealisierung der Vergangenheit in der ganzen Region geworden war.

​Das “alte” Jugoslawien war zu einer idealisierten Utopie geworden, in der alles in Ordnung gewesen war.
Das ist eine wichtige Lektion.

Was wir nicht betrauern, bleibt stecken.
Was wir nicht betrauern können, können wir nicht loslassen.
Was wir nicht loslassen können, kann sich nicht erneuern.

​Plötzlich werden wir nostalgisch, wir verherrlichen die Vergangenheit, idealisieren die Person, die uns verlassen hat, oder wir hören auf, hinzuschauen und zu würdigen, was geschehen ist.
Wir verschließen unser Herz, schließen dieses Kapitel unseres Lebens ab, reden uns ein, dass wir diesen oder jenen Menschen sowieso nie wirklich gemocht haben, und werden kalt und pragmatisch.
Es macht keinen Sinn über vergangenes zu klagen. Einfach weitermachen!
So haben es frühere Generationen oft mit tragischen, kollektiven Verlusterfahrungen gemacht, nach den Weltkriegen, den schrecklichen Erfahrungen des Holocausts, den ethnischen Säuberungen und der Flucht in der so viele Menschen ihre Heimat zurücklassen mussten.

Jede Nation hat ihre eigene Art, mit Trauer umzugehen, und manchmal werden solche Verlusterfahrungen sogar zu nationalen Erzählungen.

​In Österreich zum Beispiel wurde das Ende des Habsburgerreiches im Ersten Weltkrieg nie wirklich verdaut und führte zu einer naiven und sehr eigentümlichen Romantisierung der "guten alten Zeit", am bekanntesten durch den "Sissi & Kaiser Franz-Joseph"-Kult in Filmen und in Wiener Souvenirläden.

​All das weist immer wieder darauf hin, wie wichtig Rituale sind, um das Verlorene zu ehren, wenn wir wirklich im Leben präsent sein wollen.

​Wir leben in aufregenden Zeiten, die in den kommenden Jahren unglaubliche Veränderungen und Wandlungen mit sich bringen werden. Das bedeutet auch, dass wir alle aufgrund dieses Wandels Verluste erleben werden, entweder persönlich oder kollektiv.

​Der beste Weg, dich auf den Wandel vorzubereiten, ist zu lernen, zu trauern, dem natürlichen Rhythmus Zeit zu geben, neue Wege zu finden, ja sogar mit Freude und Hingabe zu weinen, damit wir neu geboren werden können.

​Nur dann können wir den Raum öffnen, um über die Zukunft nachzudenken, denn sonst träumen wir einfach eine Vergangenheit herbei, die wir nicht vollständig sterben lassen konnten.

​Wenn dich das anspricht, würde ich dich zu einer kleinen Kontemplation einladen. Ich möchte dich auch dazu einladen, das nicht allein anzugehen.

Finde eine Freundin, einen Mentor oder eine Gruppe, mit der du diese Erkundung gemeinsam durchführen kannst.
Das ist es, was wir Menschen seit Anbeginn der Zeit getan haben.

​Wir kommen zusammen, um uns gegenseitig dabei zu unterstützen, das zu ehren, was gestorben ist. Loszulassen um ganz hier sein zu können mit dem, was ist.

​Gibt es etwas was in deinem Leben noch betrauert werden möchte?
Gab es in letzter Zeit oder im letzten Jahr einen Verlust, den du in deiner Trauer nicht vollständig gewürdigt hast?
Was wäre eine angemessene Feier und ein angemessenes Ritual des Loslassens für diesen Verlust?
Wen könntest du einladen, zusammenzukommen, um ein gemeinsames Ritual der Trauer zu machen - indem ihr eure Geschichten über den Verlust erzählt, mit Schönheit, Poesie, Weinen und gemeinsamem Singen?